Donnerstag, 30. April 2009
Lebenslänglich Ekelhaft
Stephen King schrieb einmal in seinem überaus lesenswerten Horror-Sachbuch „Danse Macabre“, er sei einmal gefragt worden, was für ihn die schlimmste Horror-Szene sei, die er sich vorstellen könne. Seine Antwort lautete: Rittlings ein Treppengeländer herunterrutschen, das sich während dessen in eine senkrecht stehende Rasierklinge verwandelt. Allein die Vorstellung erzeuge bei ihm immer wieder eine Gänsehaut! Kann man nachvollziehen. Ohnehin ist der Mensch beim Ersinnen von Methoden, um anderen Menschen einen Putenparka zu verpassen, höchst kreativ . Man denke nur an die „Saw“-Filme, den „Grand Prix der Volksmusik“, Dirk Bach oder „Schmidt und Pocher“.
Doch wir schauen hin! Die Faszination des Ekelhaften! Nichts ist so schlimm, so schlecht, so abartig, dass es sich nicht doch noch irgendwer anschauen würde. Die TV-Nachmittage der Privaten gäbe es nicht, ohne dieses rational kaum steuerbare Bedürfnis, bei Ekel erregenden Dingen zwar wegschauen zu wollen, aber vorher trotzdem kurz mal hinzuschauen.
Für dieses Verhalten ist einer der ältesten Bereiche unseres Gehirns zuständig: das Stammhirn, das weit unterhalb unserer höheren bewusstseinsbildenden Hirnfunktionen die Urzeitkeule schwingt. Selbst den gebildetsten und diszipliniertesten Menschen kostet es Kraft, sich dem Verlangen zu entziehen, sich einen besonders ekeligen Kackhaufen doch ganz kurz mal anzuschauen, um dann von einem heißkalten Ekelschauer durchrüttelt zu werden. Deshalb ist auch die vom ehemaligen Literatur-Papst und jetzt zum Gott der TV-Kritiker aufgestiegene Moserer Marcel Reich-Ranicki angestoßene Scheindiskussion über das Niveau des Fernsehens eben genau das, eine Scheindiskussion. Denn so funktioniert der Mensch nun mal, er MUSS sich Nachmittagstalk-Shows, Dschungel-Camp, Big Brother und ähnliche mediale Kackhaufen einfach anschauen. Unser Stammhirn, das viel älter und viel stärker ist als unsere Vernunft, verlangt es von uns, denn es gab mal eine Zeit, da war es überlebensnotwendig, ekelhafte Dinge nicht zu übersehen, damit wir sie beispielsweise nicht aus Versehen verzehren. Den Ekel erregt in der Regel nur eigentlich Ungenießbares wie verwesende Kadaver, Fäkalien, Erbrochenes, Spinnen, Skorpione, Frösche oder ähnliche Leckereien, die alle auf die ein oder andere Weise ungenießbar bis giftig sind. Diesen uralten Überlebenstrieb des Ekels tragen wir bis heute in uns. Auch wenn wir inzwischen WISSEN, dass man – um es mit Frank Zappa zu sagen – „den gelben Schnee“ nicht essen soll, befinden wir uns quasi in lebenslanger Ekelhaft!
Dass gerade die eigentlich ungenießbaren TVFormate, vor diesem Hintergrund so hohe Einschaltquoten erzielen können – nein, müssen – verwundert da noch nicht einmal mehr, sondern macht sie über jegliche Kritik erhaben. Stammhirnfernsehen, eben! Oder wie es ein alter, sehr weiser Freund gerne sagt: „Was soll man da machen? Da kann man nix machen!“
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